Business Less Usual

Beitrag von Lyam Bittar  | Veröffentlicht am 19. April 2023  
Das jüngst veröffentlichte Fairwork-Ranking der Universität Oxford und des Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) wirft ein Schlaglicht auf die ambivalenten Arbeitsbedingungen in unserer Branche - und macht deutlich, dass wir Veränderungen auf struktureller Ebene anstoßen müssen. Mit einem frei zugänglichen Index für gute Agenturen können wir ein starkes Instrument entwickeln, um faire, transparente Dienstleister und verantwortungsbewusste Kund:innen zusammenzubringen. Orientierung für eine solche Initiative liefert die Gemeinwohl-Ökonomie.
Dass Kolleg:innen in unserer Branche mitunter prekären Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind, ist keine frische Erkenntnis. Trotzdem sind die Ergebnisse des im Oktober erschienenen Fairwork-Ratings bestürzend. In einem weltweit angelegten Forschungsprojekt, koordiniert vom WZB und der Universität Oxford, haben Wissenschaftler:innen neun führende Übersetzungs- und Transkriptionsplattformen evaluiert. Eingeflossen sind u. a. 400 Interviews mit Kolleg:innen aus 88 Ländern und aktuelle Recherchen des beteiligten Teams. Ihr Fazit: Keine der untersuchten Agenturen erfüllt in punkto Bezahlung, Bedingungen, Management-Prozesse, Verträge und Mitbestimmung alle Mindeststandards für faire Arbeit.

TransPerfect, laut Nimdzi der weltweit umsatzstärkste Sprachdienstleister, konnte zu keinem der aufgestellten Indikatoren Nachweise erbringen und blieb punktlos, während sich Lionbridge, die globale Nummer 5, immerhin zwei Punkte sichern konnte - weil Kolleg:innen dort mit einer pünktlichen Bezahlung rechnen können und das Unternehmen nachweisen konnte, dass es „aktive Maßnahmen“ ergreift, „um das Angebot und die Nachfrage von Arbeitskräften auszugleichen und somit übermäßiger Konkurrenz und Überarbeitung entgegenzuwirken.“

Im Kern unterstreicht Fairwork damit die Ergebnisse früherer Untersuchungen. Wie unsere Kollegin Silke Lührmann im Rahmen ihrer Dissertation gezeigt hat, erleben wir das „Übersetzen an sich“ häufig als den positivsten Aspekt unserer Berufspraxis, während es die konkreten Umstände sind - enge Lieferfristen, diktierte Preise, mangelnde Wertschätzung, unqualifiziertes Projektmanagement, unkonstruktive Kritik oder das Arbeiten im gefühlten Anfrage-Stand-by -, die Unbehagen oder Stress auslösen.1 Eine andere Studie, die die oft heraufbeschworene Angst vor der Verdrängung durch maschinelle Übersetzungen näher beleuchten wollte, kommt zu dem Schluss, dass es gar nicht diese Technologien an sich sind, die für Unmut sorgen, sondern die vorherrschenden „business practices“, also das Verhalten und Gebaren von Agenturen und Kund:innen. Mit anderen Worten: Es ist nicht die Freiberuflichkeit per se, die uns zu schaffen macht - es sind die Bedingungen, die (zu) oft auf unsere Kosten, zu unseren Lasten, aber doch mit unserer Hilfe bestehen.

Das unterstreicht auch Tatiana López, die das Fairwork-Ranking zusammen mit Patrick Feuerstein verantwortet: „Prekärität ist nicht automatisch ein Merkmal von Plattformarbeit, sondern wird durch konkrete Geschäftsmodelle und Praktiken der Unternehmen hervorgebracht.“ Und so heißt es denn auch in der Studie: Anbieter haben durchaus „die Macht, Arbeitsbedingungen aktiv zu gestalten!“

Und natürlich gibt es Unternehmen, kleine und mittelständische Sprachdienstleister, die hervorragende Arbeit leisten und mit Kolleg:innen und Kund:innen wertschätzend auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das ist vielleicht der einzige wirklich bedauernswerte Aspekt des Fairwork-Rankings: Die Studie legt (wie grundsätzlich alle Fairwork-Untersuchungen) den Fokus auf die Big Player im Business. Und weil die in der Tendenz leider auf Ausbeutung statt Wertschätzung setzen, schenkt das den harten Schatten im Vergleich zum warmen Licht zu viel Raum. Gut, dass Worst Practices aufzeigt werden - aber besser wäre es zu wissen, wer in unserer Branche wirklich vorweg geht, wer die Pioniere sind, die jenseits aller Mindestkriterien arbeiten. Wenn ich als Übersetzer:in oder Kund:in nach Partnern suche: Wie finde ich die Guten in unseren Kreisen? Wie trenne ich die Spreu, die Preisdrücker, die „Umtüter“ (Miriam Neidhardt) von den seriösen Anbietern?

Nachhaltigen Erfolg definieren

Dafür muss man die Etiketten „gut“ und „seriös“ natürlich erst einmal konkreter definieren. Wenn mit der Erfüllung der fünf Fairwork-Prinzipien - faire Bezahlung, faire Bedingungen, faire Management-Prozesse, faire Verträge, faire Mitbestimmung - der Grundstein für faire Arbeit gelegt ist, was ist dann nachhaltiger Erfolg? Denn: Fairwork orientiert sich z. B. am Mindestlohn und fragt nicht nach DIN- oder ISO-Zertifizierungen. Nach meinem Dafürhalten brauchen wir deshalb z. B. in Sachen fairer Bezahlung mehr - deutlich mehr - als ein Commitment zum Mindestlohn.

Für Silke Lührmann definiert sich nachhaltiger Erfolg erst im Tandem mit Empowerment. Erfolgreich sind wir dann, wenn wir ein Maß an mentaler und finanzieller Resilienz aufbauen können, das uns in die Lage versetzt, unsere Arbeitsbedingungen selbst zu bestimmen, Stress und Ausbeutung auf ein Minimum zu reduzieren und unsere Arbeit als maximal sinnstiftend zu erleben. Auf die individuelle, Ich-für-mich-Ebene heruntergebrochen ist das unterschriftsreif formuliert. Was unsere Erfahrungen (und die Untersuchungen, die diese Erfahrungen spiegeln) uns aber lehren, ist, dass wir unseren Blick weiten müssen: Wie arbeiten wir als Selbstständige, als Agenturen in unserem jeweiligen Umfeld mit Anderen für Andere so, dass unser mentales und finanzielles Wohlergehen gleichzeitig auch das Wohl unseres Umfelds und -  weil wir auf einem angezählten Planeten leben - eine intakte Natur fördert? Was wir brauchen, ist eine 360-Grad-Perspektive auf unser berufliches Handeln, die den Fokus auf das gemeinsame, allgemeine Wohl setzt.

Erfolg aus Sicht der Gemeinwohl-Ökonomie

Wem so ein Perspektivwechsel utopisch anmutet: Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) tut genau das. Sie hat ein sehr umfassendes, ganzheitliches Verständnis davon entwickelt, was es heißt, als Unternehmer:in zu wirtschaften. Anstatt unseren Erfolg - wie so oft üblich - ausschließlich an Kennzahlen wie Umsatz und Gewinn festzumachen, lenkt die GWÖ den Blick auf unseren Beitrag zur Umsetzung grundlegender Werte, die wir in der einen oder anderen Form in jeder demokratisch geprägten Verfassung wiederfinden: Menschenwürde, Solidarität, Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung. Damit diese Werte nicht im luftleeren Raum schweben, werden sie in Bezug zu fünf Berührungsgruppen gesetzt: Lieferant:innen, Eigentümer:innen und Finanzpartner, Mitarbeitende, Kund:innen und Mitunternehmen sowie das breitere gesellschaftliche Umfeld.

Daraus ergeben sich 20 Felder, über die eine Organisation in ihrer Gemeinwohl-Bilanz Rechenschaft ablegt. Vor über zehn Jahren als Idee geboren, ist die GWÖ inzwischen zu einer lebendigen, weltweit aktiven Bewegung herangewachsen. In Deutschland zählen der Outdoor-Ausstatter Vaude, Greenpeace, der Mobilfunkanbieter WEtell, die BKK ProVita, die grüne Suchmaschine Ecosia oder der Safthersteller Voelkel zu den Leuchttürmen; jüngst in den Bilanzierungsprozess eingestiegen sind einige Gemeinden und kirchliche Verbände des Bistums Aachen, die Stadt Köln, die ein Pilotprojekt mit 10 Unternehmen auf den Weg gebracht hat, und der FC St. Pauli. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz erarbeitet aktuell eine Nationale Strategie für Sozialunternehmen und Soziale Innovationen, die explizit auch „gemeinwohlorientierte Unternehmen“ dabei unterstützen soll, ihre Potenziale zu entfalten.

Apropos St. Pauli: Nicht, dass ich dem Profifußball-Tamtam viel abgewinnen kann, aber wenn die Gemeinwohl-Ökonomie den Aufstieg in die Bundesliga schafft, warum dann nicht auch in die Riege der Topligisten in unserer Branche? Die kleineren und mittelständischen Player in unseren Reihen möchte ich da gar nicht ausnehmen. Ich sage das gern unterstrichen und gefettet: Wir können werteorientiert arbeiten. Ich sage das, weil ich aus erster Hand weiß, wie bereichernd der Bilanzierungsprozess sein kann. Ich sage das, weil es solidarische Netzwerke wie lingua·trans·fair oder das Gegensatz Translation Collective gibt, genossenschaftliche Ansätze wie InTra eG und Agenturen wie AJT mit B-Corp-Status. Wie viele andere Netzwerke und Unternehmen verdienen sie mehr Sichtbarkeit, damit wir von ihnen lernen und mit ihnen arbeiten können. Sie packen das Business-as-usual, in dem so gern gemeckert wird, anders an und machen daraus ein Business, das less usual ist.

ELSPI - Der „Ethical Language Service Provider Index“

Was wäre also, wenn wir diesen Bedarf nach mehr positiver Sichtbarkeit in Form eines öffentlich zugänglichen Rankings umsetzen würden, das den Impuls von Fairwork aufgreift und Kund:innen und Übersetzer:innen mit fairen Sprachdienstleistern zusammenbringt? Und das auf struktureller Ebene ein Baustein werden könnte, um unsere Branche insgesamt in Richtung soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit zu bewegen?

Auf den 6. ADÜ-Nord-Tagen im Mai 2022 habe ich diese Idee in einem Impulsvortrag vorgestellt und dann das Gespräch gesucht: Welche Kriterien taugen überhaupt für ein Ranking?

Die folgende Übersicht ist ein Vorstoß in diese Richtung. Stark von den Werten der GWÖ getragen, beleuchtet sie zum einen Aspekte unserer Berufspraxis, die in einschlägigen Fachzeitschriften kritisch untersucht werden (wie das Keylogging); zum anderen habe ich Kriterien aufgenommen, die in meinem Umfeld in der Zusammenarbeit mit Kund:innen und Kolleg:innen zur Selbstverständlichkeit geworden sind. In jedem Fall sind sie als Verhandlungsbasis gedacht, als eine Einladung, um ins konstruktive Gespräch darüber zu kommen, welche Indikatoren als Eichmaß für unsere Branche dienen können. Was hilft uns, mentale und finanzielle Resilienz aufzubauen? Welches Gerüst an äußeren Umständen brauchen wir, damit wir unsere Arbeitsbedingungen selbst bestimmen können, Stress und Ausbeutung minimieren und unsere Arbeit als maximal sinnstiftend erleben können?

Ja, das ist ein großes Projekt. Aber die Botschaft, die ich unterstreichen möchte, ist klar: Nachhaltige Arbeitsbedingungen sind gestaltbar - im Dialog miteinander, mit Verbänden, mit Agenturen.

Transparente Preisgestaltung
Offenlegung des Budgets: Was zahlen Kund:innen, und welches Honorar kommt bei der Übersetzenden/Lektorierenden an? Erhalten alle gemeinsam an einem Projekt arbeitenden Übersetzer:innen gleiche Honorare für gleiche Arbeit? Gibt es Eil- und Wochenendzuschläge?

Konstruktive Zusammenarbeit auf Augenhöhe
Kein Keylogging, kein Monitoring: Verzicht auf behavioristische Preisgestaltungsmodelle. Bei Bedarf wird ein direkter Kontakt zwischen Übersetzer:in und Kund:in hergestellt, um inhaltliche Fragen klären zu können.

Faire Auftragsvergabe & Lieferfristen
Aufträge werden mittels gezielter Ansprache vermittelt; eine Massenvergabe per Verteiler oder Plattform nach dem First-come-first-serve-Prinzip ist tabu. Eine Zuteilung ist nicht an metrische Performance-Messungen gebunden. Individuelle Verfügbarkeiten, Arbeitsschwerpunkte und ein realistisches, auf den jeweiligen Auftrag zugeschnittenes Arbeitssvolumen pro Tag/Stunde finden selbstverständlich Berücksichtigung.

Ethische Finanzen
Welche Bankingpartner hat der LSP? Zahlt das Unternehmen pünktlich und zuverlässig? Werden Zahlungen über Dienstleister wie PayPal abgewickelt, und werden für die Abwicklung Gebühren vom Honorar abgezogen? Wer sind die Eigentümer:innen des Unternehmens, und welche Ziele verfolgen sie? Wo liegt der Firmensitz des Unternehmens, und werden dadurch Steuerzahlungen vermieden?

Ökologische Nachhaltigkeit
Nutzt das Unternehmen grünen Strom und grüne Hostinglösungen? Setzt es sich mit nachhaltiger IT und nachhaltiger Beschaffung auseinander?

Geschäftsfelder
Bedient das Unternehmen kritische oder problematische Geschäftsfelder, die ökologische Schäden verursachen, soziale Ungleichheiten oder Konflikte schüren oder Menschenrechte verletzen? Und im Kopfstand gefragt: Arbeitet es in Geschäftsfeldern, die Ungleichheiten abbauen oder Menschenrechte sichern?


1 Silke Lührmann, „Vom täglichen Jonglieren. Arbeitsbedingungen in der Übersetzerbranche“, in: MDÜ 1/2020, S. 36–39.

Über deN Autor

Lyam Bittar

Über dEN AUTOR

Lyam Bittar

Lyam Bittar ist mit zwei Elternsprachen und drei Staatsbürgerschaften aufgewachsen. Als angestellter Freiberufler übersetzt und lektoriert er seit 2015 für ethisch unbedenkliche Kund*innen. Sein Augenmerk gilt allem Konstruktiven in den Bereichen Politik, Gesellschaft, Mobilität und Umweltschutz, das die ökologische und soziale Transformation unserer Gesellschaft voranbringt. 2020 hat er seine erste Gemeinwohl-Bilanz veröffentlicht. Er ist Mitglied im VGSD und wurde im November 2022 zum Präsidenten des DVÜD gewählt.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: