Die schöne neue Welt des Dolmetschens

Beitrag von Manuela B. Wille  | Veröffentlicht am 2. April 2023  

Im März 2020 reiste ich nach München zu einer Konferenz, für die ich als Dolmetscherin gebucht war. Als ich gerade im Hotel angekommen war, wurde ich gefragt: „Sie wissen schon, dass die Konferenz abgesagt wurde?“ Nein, das hatte ich nicht gewusst. So nahm ich meinen Koffer und reiste zurück nach Hamburg. Kurz darauf hagelte es Absagen.

Die schöne neue Welt des Dolmetschens

Flaute: Konferenzen abgesagt, die Stühle bleiben leer | Bild: aitoff auf Pixabay.com

2020 hätte ein richtig gutes Jahr werden können. Bereits der Januar und Februar, Monate, in denen üblicherweise eher wenige Konferenzen stattfinden, waren überdurchschnittlich gut, mein Terminkalender war voll. Mitte März dann waren alle Termine abgesagt. Einige Kunden haben Ausfallhonorare gezahlt, manche zumindest einen Teilbetrag, aber die meisten haben die Veranstaltung entweder verschoben oder beriefen sich auf höhere Gewalt. Im August 2020 hatte ich die bislang letzte Präsenzveranstaltung in München, natürlich unter Corona-Bedingungen, d. h. nur ein Dolmetscher pro Kabine, Mindestabstand, Masken usw. Alle anderen Aufträge, die ich ansonsten wahrgenommen habe, waren Ferndolmetschen in irgendeiner Form, d. h. reine Online- oder Hybridveranstaltungen, wobei aus einem Dolmetsch-Hub oder dem Homeoffice gedolmetscht wurde.

Mein Arbeitspensum lag 2020 etwa 60 bis 70 % unter dem Durchschnitt, 2021 bisher bei weniger als 50 %. Finanziell also ein Desaster.

RSI und DI

Remote Simultaneous Interpretation (RSI), eine Form des Ferndolmetschens, auch Distance Interpreting (DI) genannt, kann unter gänzlich unterschiedlichen Bedingungen ablaufen. Der größte Nachteil gegenüber einer Präsenzveranstaltung besteht darin, dass man das Publikum nicht sieht. Normalerweise sitze ich in meiner Dolmetschkabine hinter dem Publikum und bekomme Feedback von den Zuhörern im Saal. Ich kann erkennen, ob sie lachen, sich langweilen oder gebannt zuhören. Beim RSI sehe ich nur den Redner, und so habe ich manchmal das Gefühl, „ins Leere hinein“ zu dolmetschen, ein seltsam entkoppeltes Gefühl. Es fehlt die Interaktion, und die ist beim Dolmetschen nun einmal ganz wesentlich.

Wenn ich aus dem Hub dolmetsche, sind meist alle beteiligten Personen nur online dabei. Im ersten Corona-Jahr fanden zunächst fast ausschließlich Veranstaltungen statt, die gesetzlich vorgeschrieben sind: Aufsichtsratssitzungen, Hauptversammlungen, Eurobetriebsratssitzungen etc. Besonders Großveranstaltungen wie Messen wurden immer wieder verschoben. Nach und nach entstanden auch für andere Veranstaltungen wie Firmentagungen Online- oder Hybridformate.

Dolmetschen aus dem Hub, Studio oder Homeoffice

Seit Ausbruch der Pandemie haben einige Anbieter von Dolmetschtechnik in ihren Firmenräumen sogenannte Dolmetsch-Hubs eingerichtet. Allein in Hamburg gibt es zwei, in fast allen größeren Städten mindestens einen. Das ist sehr praktisch, denn so müssen sich die Dolmetscher/-innen nicht im eigenen Büro einen provisorischen Dolmetsch-Arbeitsplatz zusammenbasteln, sondern nutzen die professionelle Ausstattung im Hub, und dazu gehört einiges: Technik gemäß ISO-Normen, schalldichte Kabinen, Großbildschirme, störungsfreie Highspeed-Internetleitungen, Back-Up-Server und Techniker vor Ort. Das ist natürlich sehr komfortabel. Mitunter wurden bei Unternehmen jeweils für eine Veranstaltung mit mobilen Kabinen Pop-Up-Hubs aufgebaut, natürlich eine für jeden Dolmetscher. Manchmal waren dann die Manager vor Ort, aber die Mitarbeiter waren nur online dabei. Oder die Mitarbeiter saßen (mit Abstand und Maske) im Raum, und die Manager waren aus der Ferne zugeschaltet. Mittlerweile sind Pop-Up-Hubs in Firmen kaum noch erlaubt, weil betriebsfremde Personen das Gelände nicht mehr betreten dürfen.

Einige Kolleg/-innen haben sich zu Hause einen eigenen Mini-Hub, auch Studio genannt, aufgebaut, der allerdings weniger Komfort und Sicherheit bietet als ein professioneller Hub. Andere dolmetschen aus dem Homeoffice, aber das ist natürlich weniger professionell und birgt einige Unwägbarkeiten. Deswegen rate ich allen, auf jeden Fall vorher mit dem Kunden einen umfassenden Haftungsausschluss zu vereinbaren, um sich abzusichern, und entsprechend technisch aufzurüsten, um für alle relevanten Systeme ein Back-up zu haben.

Ich selber habe bisher fünf oder sechs Mal aus dem Homeoffice gedolmetscht, neulich sogar konsekutiv. Dann schalte ich alle Telefone stumm, schicke sämtliche Mitbewohner inklusive Katze aus dem Haus und bringe ein „Bitte nicht stören“ Schild an der Haustür an. Während der Veranstaltung nutze ich eine sichere LAN-Verbindung mit mobilem LTE-Back-up, zwei Computer und zwei gute Headsets. Im Vorfeld schicke ich dem Konferenzleiter eine Liste der technischen Voraussetzungen: Redner brauchen vor allem ein gutes Mikrofon (mit Kabel, auf gar keinen Fall drahtlos), also ein gutes Headset oder ein Podcaster-Mikrofon, und eine stabile Internetverbindung (LAN und nicht WLAN). Leider sind gerade Top-Manager häufig beratungsresistent, und darunter haben wir Dolmetscher/-innen dann zu leiden. Wenn sich z. B. einer in Rio mit dem Handy im Auto in eine Konferenz einwählt, verstehe ich nur die Hälfte von dem, was er sagt.

Knalltrauma und Toxic Sound

Beim Dolmetschen braucht man die gesamte Frequenzbreite des Tons und am besten auch die Mimik und Gestik der Redner, wozu eine stabile Audio- und Videoverbindung hoher Qualität gemäß ISO-Norm nötig ist. In Kanada, wo aufgrund der zwei Amtssprachen naturgemäß sehr viel gedolmetscht wird, gibt es bereits Studien zum Thema Hörschädigung und kognitive Belastung durch Ferndolmetschen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist das sogenannte Knalltrauma, das durch einen sehr kurzen, starken Schalldruck ausgelöst wird. Das passiert eher selten, führt aber zu bleibenden Schäden im Ohr. Das zweite große Problem ist der Toxic Sound: Dabei werden die Dolmetscher/-innen über längere Zeit einer schlechten Tonqualität ausgesetzt, was häufig gar nicht bewusst wahrgenommen wird, aber dann schleichend zu Gehör- und sogar Hirnschädigungen führt. Erste Anzeichen sind meist Kopfschmerzen, Tinnitus und Ohrenschmerzen.

Meine eigene Erfahrung beim RSI ist, dass eine schlechte Tonqualität und die hohe kognitive Belastung sehr ermüdend sind. Als erfahrene Dolmetscherin kann ich bei einer Präsenzveranstaltung normalerweise locker 30 bis 45 Minuten am Stück dolmetschen, bevor ich an Kolleg/-innen übergebe. Beim RSI wechseln wir bereits nach 15 bis 20 Minuten.

Weiterbildung und Technik-Expertise

Ich habe vor allem zu Beginn der Pandemie die freie Zeit genutzt, um mich umfassend weiterzubilden. Manchmal habe ich dreimal täglich an Zoom-Konferenzen teilgenommen, Webinare besucht und viel recherchiert, um vor allem die technischen Aspekte zu verstehen. Als aktives AIIC-Mitglied habe ich zahlreiche Online-Vorträge vor Kolleg/-innen in aller Welt gehalten, in denen ich meine Erfahrungen geteilt, über die Risiken beim RSI, technische Voraussetzungen, professionelles Setting und Themen wie Haftungsausschluss referiert habe.

Der Markt ist sehr unübersichtlich, es gibt unzählige Anbieter für Meeting-Plattformen und Dolmetschtechnik, und es werden täglich mehr. Sie zählen zu den Gewinnern der Pandemie und schießen wie Pilze aus dem Boden.

Ein Knackpunkt ist die Wahl der richtigen Plattform: Einsprachige Systeme wie Skype beispielsweise sind nur sehr eingeschränkt geeignet und benötigen immer ein Provisorium, Zoom hingegen bietet ein Dolmetschmodul. Heutzutage gibt es etwa sechs große Anbieter im Bereich der Dolmetschplattformen (Simultaneous Interpretation Delivery Platform, kurz SIDP), von denen jede ihre eigenen Stärken und Schwächen hat. Vor der Pandemie waren diese „nur“ Technikanbieter, aber mittlerweile agieren sie häufig wie Dolmetscheragenturen, d. h. sie vermitteln die Dolmetscher/-innen gleich dazu, schreiben die Honorare vor und ziehen eine fette Provision ab. Das ist für uns natürlich eine sehr negative Entwicklung. Womit ich zu einem weiteren wichtigen Punkt komme:

Beim Ferndolmetschen sind die Arbeitsbedingungen viel härter, und das muss sich auszahlen

Aufgrund der meist schlechten Tonqualität und hohen kognitiven Belastung berechne ich einen RSI-Zuschlag von im Schnitt 30 %. Hinzu kommt ein Copyright-Honorar, weil die Konferenzen meistens aufgezeichnet werden. Auch einen Streaming-Zuschlag kann man verlangen. Das bedeutet, dass wir Dolmetscher/-innen beim RSI theoretisch sogar mehr verdienen können als zuvor bei Präsenzveranstaltungen, aber das ist leider nicht allen bewusst. Ich habe daher außerdem Webinare zum Thema Marketing und Preisverhandlung besucht. Es wurde mir nämlich nicht in die Wiege gelegt, mit den Kunden gute Konditionen auszuhandeln, aber auch das kann und sollte man lernen, gerade jetzt, wo so vieles im Umbruch ist!

Dolmetscher/-innen fallen durchs Förderungsnetz

Ein weiteres Problem für mich und viele meiner Kolleg/-innen ist die Tatsache, dass wir bei den staatlichen Hilfsprogrammen leer ausgegangen sind. Zum einen, weil bei der Beantragung nur der Umsatz zum Tragen kommt. Wenn ich aber einen Dolmetscheinsatz organisiere, bei dem ich fünf weitere Dolmetscher/-innen und möglicherweise auch die Technikfirma engagiere, dann werden nur meine Einnahmen und nicht die Ausgaben berücksichtigt, was das Bild meines Einkommens stark verzerrt. Zum anderen, weil die meisten nur ein häusliches Arbeitszimmer, keine Angestellten und damit keine hohen betrieblichen Kosten haben. Nur in manchen Bundesländern wie z. B. NRW, Baden-Württemberg und Thüringen konnten Dolmetscher/-innen auch einen Unternehmerlohn beantragen. Das gibt es in Hamburg nicht. Somit bleibt uns nur, auf unsere Rücklagen oder gar auf die Altersvorsorge zurückzugreifen.

Erster Messe-Einsatz seit einem Jahr

Mitte April war ich das erste Mal seit einem Jahr für eine Messe gebucht, und zwar für die digitale Ausgabe. Eine Messe ohne Besucher! Dafür aber mit Moderator/-innen, Techniker/-innen und eben auch Dolmetscher/-innen vor Ort. Die Hygienestandards waren hoch: Wir mussten täglich einen Schnelltest machen und trugen Masken und ein Abstandsmessgerät, das zu piepsen begann, wenn jemand den Mindestabstand von anderthalb Metern unterschritt. Wo sich sonst jedes Jahr die Massen drängen, war dieses Jahr nur gespenstische Leere, da Besucher ausschließlich virtuell teilnehmen konnten. Eine Messeerfahrung der ganz anderen Art.

Über die Autorin

Manuela B. Wille

Manuela B. Wille

Über die Autorin

Manuela B. Wille

Manuela B. Wille arbeitet seit dem Abschluss als Diplom-Dolmetscherin an der Universität des Saarlandes freiberuflich als Konferenzdolmetscherin für Deutsch, Englisch und Spanisch bei internationalen Konferenzen, Geschäftsverhandlungen, Aufsichtsratssitzungen, Hauptversammlungen, Eurobetriebsratssitzungen, Schiedsgerichten, Depositions, Fernsehproduktionen u. v. m. sowie als Fachübersetzerin für diese Sprachen.
Sie ist ADÜ-Nord-Beauftragte für Konferenzdolmetschen und DIN/ISO, Mitglied im Vorstand des Privatmarktsektors der AIIC (PRIMS), Mitglied der Taskforce on Distance Interpreting der AIIC (TFDI) und Mitglied der Consulting Interpreters der AIIC (CI).


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