Vom Anstandswauwau zur Weltbürgerin – Memoiren einer Übersetzerkollegin aus ferner Zeit

Beitrag von Martin Dlugosch  | Veröffentlicht am 6. April 2023  

Möchte man etwas darüber erfahren, wie es in einer Londoner Übersetzungsagentur vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zuging, dann greife man zu der Autobiografie „Ein Mensch wird“.

„Nun arbeitete ich täglich von halb zehn Uhr früh bis eins und von zwei bis sechs, obwohl es Tage gab, an denen wir bis Mitternacht und länger im Büro verweilten und durcharbeiten mussten, ohne deshalb am nächsten Tage ausbleiben zu dürfen (…). Von den Gerichtshöfen, den Rechtsanwälten und den Notaren erhielten wir Testamente, Prozessausschnitte, Sittenzeugnisse und andere Dokumente, von den Museen Abhandlungen wissenschaftlicher Art, von der Royal Academy Kunstkritiken, von den Geschäftshäusern allerlei Briefe zugeschickt. 

Das London Hospital bedurfte oft medizinischer Übersetzungen aus dem Deutschen, die ein halbes Buch füllten.“

Verfasserin dieses Insiderberichts ist Alma Maximiliane Karlin, geboren 1889 in einem Provinznest des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn namens Cilli, dem heutigen Celje (der drittgrößten Stadt Sloweniens). Zu ihrem früh verstorbenen Vater, einem pensionierten Major der k.u.k.-Armee, hatte sie ein sehr inniges Verhältnis, wie den lustigen Episoden mit ihm zu entnehmen ist, die an die Bildergeschichten von Erich Ohser erinnern (besser bekannt unter seinem Pseudonym e o. plauen, zu dem er wegen des Berufsverbots der Nazis greifen musste).

Die Mutter hingegen hatte, obwohl selbst eine passionierte Lehrerin, für ihre eigene Tochter keine höhere Bildung im Sinn, sondern war vor allem auf deren korrekte Körperhaltung und tadelloses Benehmen bedacht, damit ihr einziges Kind später einmal eine gute Partie sein möge. Folglich war die Kindheit des körperlich behindert zur Welt gekommenen Mädchens ein Martyrium voller Sanatoriumsaufenthalte und dubioser orthopädischer Therapien. Schon früh kam aber ihr unbändiger Wille zum Vorschein, der sie manch einen Kampf mit der Mutter ausfechten ließ, was mit einer gehörigen Prise (Selbst-)Ironie geschildert wird. Zu Hause wird Deutsch gesprochen, aber quer durch ihre eigene Verwandtschaft sind bereits die Risse entlang der ethnischen Grenzen sichtbar, die später zum Zerfall der Donaumonarchie führen sollten.

Dank ihrer großen Sprachbegabung gelingt Alma Karlin der Ausbruch aus dieser engstirnigen Welt, zunächst mit dem Abschluss eines Lehrerstudiums und dann mit dem wilden Entschluss, in London ihr Glück zu versuchen. Zuvor hat sie bereits einige Metropolen Europas bereisen können, was damals - in einer Zeit ohne Billigflieger - noch um einiges kostspieliger war. Glücklicherweise kann es sich ihre Mutter als berufstätige Offizierswitwe leisten, mit ihrer querköpfigen Tochter Bildungsreisen zu unternehmen. In der Hauptstadt des britischen Weltreichs angekommen, bemüht sich der Backfisch zunächst um eine Anstellung als Erzieherin, scheitert mit diesem Plan jedoch kläglich, bis sie bei einem Spaziergang im Regen nahe des Piccadilly Circus unvermittelt folgendes Firmenschild liest: „Miss Ainslie‘s Translation Office and School of Languages“. Sie wird prompt eingestellt, muss aber als Bedingung erst lernen, „45 Worte die Minute“ auf der Schreibmaschine zu tippen, dem Hightech-CAT-Tool jener Tage.

Trotz ihrer diversen Sprachkenntnisse muss sie anfangs auch Lehrgeld zahlen: „Die italienische Korrespondenz führte ich fast allein aus, und da erinnere ich mich eines Fehlers, der mir zuerst eine lange Nase und dann viel Gelächter eintrug. Die Mailänder Firma, die zumeist schrieb, begann ihre Briefe unweigerlich mit dem üblichen ‚Wir haben das Vergnügen, Ihnen ... mitzuteilen ...‘, und ich übersetzte ganz mechanisch diese Redensart auch in dem Falle, in dem die Firma den Tod ihres Chefs mitteilte. Das gab ein Getöse nach der Ablieferung“.

Jede freie Minute verbringt sie mit Sprachunterricht; entweder gibt sie welchen, um ihr Gehalt aufzubessern, oder sie nimmt selbst Privatstunden, in ihrer unersättlichen Neugier auf weitere Fremdsprachen und exotische Kulturen. Als Lehrer dienen ihr Muttersprachler aus aller Herren Länder, vorwiegend männlich, und so muss sie sich mehr als einmal eines Heiratsantrags erwehren. Auf diese Weise lernt sie Sanskrit, Chinesisch und Japanisch und legt in einem beispiellosen Kraftakt Prüfungen in acht europäischen Sprachen ab, darunter Norwegisch und Schwedisch. Das kommt ihr dann sehr zupass, da sie nach den Schüssen in Sarajewo alsbald das Land als „national of a hostile power“ in Richtung Skandinavien verlässt. Inzwischen ist sie mit dem nötigen Rüstzeug und Selbstvertrauen ausgestattet, um nach Kriegsende ihrem Kontinent, der sich langsam erst wieder berappeln muss, den Rücken zu kehren und eine Reise um die Welt zu wagen.

Unterwegs finanziert sie sich mit Reportagen aus den fernen Ländern und zuweilen auch als (erste in Panama vereidigte) Dolmetscherin. Ihre Reiseberichte werden in den 1920er Jahren in Deutschland zu Bestsellern und landen 1933 dann auf dem Index, weil Karlin aus ihrer Abscheu vor dem Nationalsozialismus nie einen Hehl gemacht hat. Im Zweiten Weltkrieg gewährt sie, inzwischen in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt, Flüchtlingen aus Deutschland Unterschlupf und schließt sich später den Partisanen an. Da sie aber auch zum Kommunismus auf Distanz geht, wird sie nach ihrem Tod 1950 in Titos Jugoslawien beharrlich totgeschwiegen. Erst im EU-Staat Slowenien wird sie von der Literaturwissenschaft wiederentdeckt und postum gefeiert.

Wer aus der Sicht einer Übersetzerkollegin und für damalige Verhältnisse ungemein modernen Frau (ohne das farblose Korsett einer überängstlichen politischen Korrektheit) etwas erfahren möchte über das Europa vor hundert Jahren, wo damals nebenbei bemerkt allerorts endlich das Frauenwahlrecht durchgesetzt wurde, der ist mit diesem spannenden Buch mehr als gut bedient.

Alma M. Karlin: Ein Mensch wird: Auf dem Weg zur Weltreisenden
Aviva Verlag
320 Seiten, ISBN: 978-3932338694

Über den Autor

Martin Dlugosch

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Über den Autor

Martin Dlugosch

Nach Abschlüssen am Pekinger Spracheninstitut (BA Chinesische Sprache und Kultur), der Universität Mainz/Germersheim (Dipl.-Übersetzer Chinesisch und Englisch) und der Export-Akademie der FH Reutlingen (MA Internationales Marketing) war Martin Dlugosch mehr als 15 Jahre Übersetzer bei Amnesty International Deutschland. Gleichzeitig unterrichtete er an den Universitäten Mainz/Germersheim und Bonn Chinesisch mit dem Schwerpunkt Übersetzen. Seit 2007 ist er als Übersetzer für Englisch, Tschechisch, Slowakisch, Französisch, Spanisch und Italienisch beim Europäischen Parlament mit Dienstort in Luxemburg tätig.

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